Vor drei Tagen las ich einen Blogbeitrag von Elodiy. Sie schreibt darin über die fälschliche Annahme, dass es leichten und schweren Autismus gäbe und beschreibt zudem, dass auch die einzelnen Symptome nicht immer auf die gleiche Weise ausgeprägt sind.
Die leichten und schweren Formen basieren auf dem Irrtum, dass es sich bei Autismus um etwas mit linearer Ausprägung handelt. Wie etwa Fieber, wo sich leicht und schwer anhand der gemessenen Temperatur bestimmen lässt.
(Elodiy)
Vor einigen Monaten stellte ich einmal die Frage, ob Autisten mit der Zeit eigentlich auch weniger oder mehr autistisch werden können. Das war vielleicht eine naive Frage, aber dieses Thema machte mir Gedanken. Autismus ist nicht heilbar, aber ich bemerkte bei mir selbst, dass meine Symptome nicht immer auf dem gleichen Level verharren. Manchmal konnte ich mich eine halbe Stunde problemlos mit der Nachbarin unterhalten, einige Wochen später wurde bereits die Begrüßung derselbigen zum Kraftaufwand. Ich fragte mich unwillkürlich, ob ich autistischer geworden war, oder welche sonstige Begründung hinter meinem sich wandelnden Verhalten lag.
Inzwischen weiß ich, dass ich nicht autistischer geworden war, sondern meine Fähigkeit zur Kompensation abgebaut hatte. Das passiert beispielsweise bei Müdigkeit, einem Mangel an Energie oder Zeiten von enormen Stress. Meine Großmutter nennt das gerne „Rückfall“. Am Anfang fühlte ich mich von ihrer Aussage verletzt, empfand sogar Ärger, aber inzwischen verstehe ich ihren Gedankenansatz. Meine Großmutter kennt mich aus einer Zeit, in der ich zu keinerlei Kompensation fähig war. Als Kind und Jugendliche konnte ich immer nur „Ich“ sein, ohne Maskierung, ohne Chamäleonkostüm. Zu Beginn meines Studium begann ich automatisch mit der Kompensation. Das erweckte auf meine Großmutter den Eindruck, dass ich viele autistische Verhaltensweisen abgelegt hatte. In Wahrheit hatte ich diese Verhaltensweisen jedoch nicht abgelegt, sondern sie hinter der Maskierung versteckt. Das funktioniert über einen gewissen Zeitraum.
Wenn meine Großmutter und ich zwei Stunden in der Stadt unterwegs waren, konnte ich für diese Zeit kompensieren und nach Außen hin ein unauffälliges Verhalten präsentieren. Nach den zwei Stunden kehrten wir nach Hause zurück, wo ich augenblicklich verstummte und zu keiner weiteren Konversation fähig war. Oft konnte ich mich nicht einmal mehr von der Stelle rühren oder nutzte mein Stimming, so dass meine Großmutter den Eindruck bekam, dass ich einen „Rückfall“ hatte und in alte Verhaltensmuster gefallen war. In Wahrheit sind dies aber keine alten Verhaltensmuster. In den zwei Stunden der Kompensation habe ich mein Verhalten vielmehr unterdrückt, mit einer Maskierung überschattet.
Man könnte auch sagen, dass der Autist quasi ständig im Spektrum herum wirbelt. An manchen Tagen können Dinge wie Smalltalk gelingen, an anderen ist selbst eine einfache Begrüßung enorm anstrengend.
(Elodiy)
Interessanterweise habe ich erst zu Beginn meines Studiums mit der Kompensation begonnen. In meiner gesamten Schulzeit, aber auch in meiner Ausbildung und auf dem zweiten Bildungsweg für das Abitur, war ich in meinem Verhalten immer irgendwie auffällig. Menschen, die mich zu meiner Ausbildungszeit oder im Abitur kennengelernt haben, kennen mich daher noch mit meinen Eigenarten und Merkwürdigkeiten. Menschen, die mich erst im Studium kennengelernt haben, würden vermutlich nicht glauben, dass ich Autistin bin und eine ganze Palette an Schwierigkeiten habe. In meinem Studium trug ich das Chamäleonkostüm wie eine zweite Haut. Das gelang mir gut, weil ich genau zu meiner Studienzeit eine eigene Wohnung bezog.
Meine erste Wohnung hier war sehr autistenfreundlich, weil sie im Hinterhof lag und äußerst reizarm war. Ich hatte keinerlei direkte Nachbarn, da ich in einer umgebauten Werkstatt lebte. Niemand lebte über oder unter mir, niemand rechts oder links neben mir; ich hatte komplett meine Ruhe. In der näheren Umgebung gab es keine Rasenflächen oder große Gärten, daher auch im Sommer kaum Geräusche oder Grillfeste. Ich hatte nicht einmal eine Türklingel, so dass ich auch keinen unerwarteten Besuch bekommen konnte. Für mich war das oft der einzige Ausgleich, nachdem ich den Tag über oft stundenlang kompensiert hatte.
Zur Kompensation hatte ich mich zu Beginn des Studiums bewusst entschieden, wobei ich den Begriff damals noch nicht kannte und keine Ahnung davon hatte. Ich wusste nur, dass ich in meinem Studium anders sein wollte. Ich zog schließlich in ein anderes Bundesland, kannte noch keine Menschen. Niemand konnte Vorurteile haben, weil niemand mich bis zu diesem Zeitpunkt gekannt hatte. Also nahm ich mir fest vor, mich so unauffällig und „normal“ wie möglich zu verhalten. Ich wusste nicht, ob mir das gelingen würde, aber ich wollte es wenigstens versuchen und dieses Projekt starten. Am Anfang war es schwierig, aber mit der Zeit gelang es mir immer besser. Ich brauchte viel Energie für diese Maskierung, aber ich wurde dafür auch zum ersten Mal in eine Gruppe integriert. Alle autistischen Verhaltensweisen überschattete ich, ließ sie erst alleine in meiner Wohnung raus.
Es funktionierte vier Jahre lang, in denen ich vermutlich nicht nur kompensierte, sondern auch sehr stark dissoziierte. Mit diesen vier Jahren kann ich mich nicht identifizieren, habe kein Ichgefühl für diese Zeit, als hätte ein anderer Teil von mir redensartlich das Steuer übernommen. Diesen Teil nenne ich heute „die Studentin“. Nach meinem Gefühl steckte sie weniger tief im Spektrum, hatte mehr Energie zur Kompensation. Vor knapp einem Jahr dann der Wechsel. Die Studentin verschwand in den Hintergrund, ich in den Vordergrund. Für mich war das ein Schock. Das Studium, die Aufgaben und das Leben überforderten mich. Nach außen wirkte ich wieder autistischer, was vor allem meine Kommilitonen nicht nachvollziehen konnten.
Auch jetzt im Moment habe ich wieder vermehrt Schwierigkeiten mit der Kompensation. Das Einkaufen fiel mir in den letzten Wochen leicht, im Moment hingegen ist das eine echte Hürde für mich, als würde ich mich wieder tiefer im Spektrum befinden. Geräusche, Farben, Gerüche, Menschen, Kommunikation, Berührungen; alles Reize, auf die ich im Moment wieder extrem sensibel reagiere.